It takes courage : Tribune dans l’annuaire du cinéma suisse – Beitrag im Filmjahrbuch 2021
Source: https://www.cinemabuch.ch/book/66
ANITA HUGI – IT TAKES COURAGE
Filmen als Suchbewegung. Als Mutprobe. Als bleibendes Beginnen, als Schnitt mit dem Bisherigen. Denn: Was ist das Gegenteil von Mut? Ist es womöglich «tum»? Wie: Besitztum. Das !Auf-« Bewahren von dem, was erreicht ist?
Über den Rand einer bekannten Welt hinaustreten – ins Leere,oder eben: ins Freie. Im ‹Jungen Schweizer Film› ging dieser Mut in die Geschichte ein. Diese Zeit geprägt hat besonders auch der Mut der Filmpionierinnen, auch wenn sie heute teilweise ‹bekannte Unbekannte› sind: Marlies Graf, Isa Hesse, June Kovach, Reni Mertens, Gertrud Pinkus, Tula Roy, Jacqueline Veuve – und viele andere mehr. Allen voran und bereits dreissig Jahre davor, Ella Maillart: aufbrechen, mit einer Kamera die Welt ins Visier nehmen.
Diese Pionierinnen hatten den Mut, ihre Zugri#e, ihre Themen, ihre Ästhetik in den Schweizer Film einzubringen – auch jenseits des damaligen, auch filmischen, ‹common sense›. Aus heutiger Sicht wirkt die Wahl ihrer filmischen Stoffe auf mich mutig, weil diese Regisseurinnen nicht durch Anpassung ihren Platz im Schweizer Film suchen wollten, sondern frei handelten. Ohne falsche Scheu rückten sie beispielsweise das Leben und die Träume von Behinderten ins Zentrum. Sie gingen mutig ihren eigenen Weg – bei Bedarf auch allein. Sie verstanden verschiedene Filmmetiers, arbeiteten oft changierend als Regisseurin, Kamerafrau, Tonoperateurin, Cutterin oder Produzentin. War es ihr ausgewiesenes Können in den verschiedenen Filmberufen, das ihren Mut stählte?
Auch seinem Publikum etwas zumuten. «Um überhaupt einen Film zu machen, muss man schon sehr mutig sein – oder sehr dumm. In diesem Sinne sind alle guten Filme auch mutige Filme.» So äusserte sich einer, der sich und seinem Publikum stets viel zugetraut hat: Peter Liechti.
Natürlich suchen auch wir in Solothurn nach den guten Filmen – das wären, um mit Peter Liechti zu sprechen, zwingend auch mutige. Wir achten dabei bewusst auf jene Filme, die vielleicht nicht makellos sind, sondern ein echtes Risiko eingegangen sind – im Zugriff, in der Erzählform, in der filmischen Umsetzung. Filme, die den Vorstoss ins Unbekannte wagen, manchmal auch jenseits von ganz klaren Vorstellungen. Eine Werkschau bietet den Vorteil, solch mutige Ansätze zu zeigen. Und dem Publikum dadurch neue filmische Erlebnisse zu bieten.
Was bedeutet Mut für die Solothurner Filmtage als Festival? Ist es mutig, heute eine Werkschau zu veranstalten, wo mehr denn je Wettbewerb und flüchtige News den Diskurs dominieren? Welche Vorstellung von Mut begleitet uns bei der Auswahl der über 650 neuen Schweizer Filme, die jährlich zu den Solothurner Filmtagen eingereicht werden?
Wenn ich auf die Filme der letzten Festival-Ausgabe zurückschaue, bin ich begeistert vom Mut der Filmscha#enden, die sich immer wieder neu erfinden – und auch vom Mut der jungen Filmer_innen. Wie uns zum Beispiel Blaise Harrison in seinem ersten langen Spielfilm « Les Particules » (FR/CH 2019) den Boden unter den Füssen wegzieht – auch den Boden der eigenen Erwartungen, indem er beispielsweise fantastische Elemente in seinen Film einbezieht.
Oder wie Boutheyna Bouslama aus dem Nichts, vor dem sie plötzlich steht, weil sie nach Abschluss ihrer Hochschulausbildung aus der Schweiz ausgewiesen wird, sich filmend eine eigene Zukunft erschliesst und behauptet – À la recherche de l’homme à la caméra (FR/CH 2019) als Brückenschlag über die Abgründe des eigenen Lebens hinweg. Sich mutig ins Freie bewegen: Wer hat das zuletzt verquerer, ergreifender und poetischer gezeichnet als Klaudia Reynicke in Love me tender (CH 2019)?
Aufbrechen. Sich trauen. Nicht feige sein. Denn, wie es die Künstlerin Meret Oppenheim ebenfalls in den mutigen Siebzigerjahren treffend sagte: «Die Freiheit wird einem nicht gegeben. Man musssie nehmen.» Solche mutigen, freien Filme lieben wir in Solothurn.
(Anita Hugi, Frühjahr 2021)